2018-2019 – Büchner

Impulsthema 2018/19

Reader

Georg Büchner

Von Martin Kreidt

Büchner – Impulsthema 2018/19

Büchners Person

Wenn es um den Kontakt zu alten Texten geht, entflammt meine Liebe zu Biographien. Sind sie mit Hingabe, Wissen und gut geschrieben, entsteht das Bild einer Zeit, mehr noch, die betreffende Person wird schemenhaft deutlich und ermöglicht einen beziehungstechnisch belebten Kontakt zum Werk. Bei Büchner gelingt mir das zum wiederholten Mal nicht. Seine Person bleibt im Nebel. Das ist ein Phänomen.

Es wird zum einen faktische Gründe haben. Wer mit 23 stirbt, hinterlässt quantitativ weniger. Zum anderen war er als Autor zu Lebzeiten so gut wie unbekannt. Er ist 1837 im Züricher Exil an Typhus gestorben. Dantons Tod wurde 1902, Leonce und Lena 1885 und Woyzeck erst 1913 uraufgeführt. Büchners posthume Karriere als Dramatiker kam also erst spät in Gang. Dann aber gewaltig. Wer nur drei Stücke im Portfolio hat, die Musiker, Autoren, Literaturwissenschaftler, Theaterleute unterschiedlichster Couleur und politischer Ausrichtung in diesen bewegten Zeiten bis heute anregen, inspirieren und faszinieren, der muss Einiges in diese Stücke gepackt haben.

Büchner hat Medizin studiert. Er entscheidet sich, nicht Arzt zu werden wie sein Vater, sondern widmet sich der Vergleichenden Anatomie und strebt eine Universitätskarriere an. Nach der Wissenschaft, dem Sezieren und der Herstellung von Präparaten schreibt er. Ein Gelegenheitsschriftsteller, auf dessen schriftliche Hinterlassenschaften sich niemand stürzte, um sie zu veröffentlichen.

Erschwerend dazu, dass alles, was von Büchner übrig geblieben ist, durch die Hände seiner Braut gegangen ist. Einer Pastorentochter mit späterem Hang zur Frömmelei, die die Briefe und Dokumente durchgesehen und deren Interesse an einem bestimmten Bild des Verstorbenen Vieles vernichtet hat. Die Quellenlage ist porös.

Aber das ist es nicht. Büchner als Person ist deshalb so schwer zu greifen, weil er ein moderner Mensch ist. Ein Erster unter unseren literarischen Erstbundesligisten. Wenn wir uns an den Film 2001 – Odyssee im Weltraum von Stanley Kubrik erinnern, in dem, wenn die Menschheit eine Zivilisationsstufe erreicht hat, sie einen Quader findet, der dann eine fremde Zivilisation über diesen Schritt informiert, dann ist Büchner eine frühe Antenne der Zeit, in der wir heute leben. Viele, die nach ihm geschrieben haben, sind es nicht. Er ist uns trotz der langen Zeitspanne zu heute (Büchner würde 2018 205 Jahre alt) darin verwandter als Goethe, der 64 war, als Büchner 1813 bei Darmstadt geboren wurde. Trotzdem ist Goethe eine spannende Folie für Büchner. Nicht nur, dass dieser ihn, im Gegensatz zu Schiller, geschätzt hat; es gibt interessante Parallelen und noch interessantere Unterschiede.

Begnügen wir uns mit der Naturwissenschaft, die beide auf ihre sehr unterschiedliche Art betrieben. Goethe entwickelt aus Naturbeobachtung und -studium eine eigene Lehre, die nicht im Widerspruch zu seinem poetischem Schaffen steht. Im Gegenteil, sie ist eine Ergänzung und spricht aus dem gleichen Kern in eine andere Richtung. Alle Richtungen seiner Produktion bilden eine Einheit. Auch wenn wir nicht die sehr unterschiedlichen Lebensspannen der beiden aus den Augen verlieren wollen (bei Goethe war mit 23 noch nicht viel Naturwissenschaft zu sehen), betreibt Büchner knallhart Schulmedizin. Besser gesagt, Schulanatomie, die nicht heilt, sondern seziert und präpariert, eine durchaus handwerkliche Tätigkeit, in jedem Fall aber genau so, wie es dem Stand der damaligen Wissenschaft entsprach. Forschende Fleißarbeit, ohne jeden Überbau. Staubfäden zählen, wie Leonce sagt. Arbeit am Detail. Wie heutzutage.

Natürlich gibt es zahlreiche Hinweise im Werk Büchners auf seinen Hauptberuf. Aber Wissenschaft und Kunstproduktion laufen bei ihm getrennt. Hier die Arbeit, dort das Hobby, der Ausgleich, wenn man schon nicht von Entspannung sprechen kann. Der Braut, der Familie verschweigt er lieber, was in den freien Stunden geschieht und entsteht. Sie hätten sich mit Grausen abgewendet. Büchners literarischer Hang zu dem Bereich unterhalb der Gürtellinie dürfte die Braut nicht erbaut haben. Dantons Tod musste vor Drucklegung entschärft werden. Der Text war für die damalige Zeit pornographisch und hätte die Zensur nicht passiert.

Diese Uneinheitlichkeit, diese Brüchigkeit durchzieht Leben und Werk Georg Büchners an vielen Punkten. Das macht ihn so schwer greifbar – und gleichzeitig so nah. Sind es doch die unauflösbaren Widersprüche, die unser Leben heute so fundamental bestimmen, dass sie uns nicht mehr auffallen. Im Großen, wie im Kleinen. Ob wir uns für Flüchtlinge engagieren, aber niemals unsere Kinder auf eine Schule schicken würden, wo sie alle sind, ob wir mit regionalem Essen im Bauch uns auf die Reise zum Tauchen nach Südostasien machen, ob wir uns moralisch dünken, aber selbstredend in einer Situation leben, die weltweit auf schreiendem Unrecht basiert. Ob wir im Auto sitzend über den Klimawandel nachdenken, hunderte Kilometer zur Arbeitsstelle fahren, im Winter Tomaten essen, freiwillig mithelfen, Datenkraken aufzubauen – der Widerspruch gehört zur Grundausstattung und ist deshalb normal. Wirkliche Konsequenz würde aus der Norm fallen. Büchner ist ein sehr früher Vertreter unserer heutigen Spezies. Mit dem Unterschied, dass der tiefe Widerspruch heute zum Konsens geworden ist, wahrscheinlich die einzige wirkliche, gemeinsame Gewissheit ist, die Büchner dagegen, jungfräulich und weit vor seiner Zeit, als überscharfen Alptraum erlebt. Das macht ihn so gewaltig.

Seine kurze Schaffensperiode wird von einem scharfen Bruch durchzogen. In der ersten Phase 1832 – 35 studiert er Medizin in Straßburg und später in Gießen und ist politisch aktiv. Überall im Land entstehen demokratisch-revolutionäre Zirkel. Als Antwort auf eine bleierne Zeit. Napoleon, der durch die deutsche Fürstentümer-Landschaft mit effizienten und modernen Ideen gerade in Organisations- und Verwaltungsfragen gefegt ist, teilweise großen Anklang in bürgerlichen Kreisen (wie Büchners Vater) fand, ist Geschichte. Restauration, die alte Ständegesellschaft behauptet sich noch einmal. Die Obrigkeit reagiert mit Repressalien, Zensur, mit einem Überwachungs- und Spitzelstaat.

Insbesondere unter den Studenten regt sich Widerstand. Und Büchner mitten drin, bzw. vorne weg. Gemeinsam mit einem politisch aktiven Geistlichen schreibt er den Hessischen Landboten. Sie haben die bis heute praktizierte Idee, dass mittels „Aufklärung“, also Propaganda, bei den „unteren Schichten“, in diesem Fall bei der hessischen Landbevölkerung, Widerstand geweckt und ein Aufstand initiiert werden kann. Dazu baut man ein geheimes Netzwerk mit versteckter Druckerpresse und verdeckten Vertriebswegen auf. Doch der Plan wird durch einen Spitzel verraten, ein Teil der Studenten kommt in lange Kerkerhaft unter entsetzlichen Bedingungen. Büchner flieht rechtzeitig ins Ausland, nach Straßburg. Das Schicksal seiner Mitstreiter hat ihn bis zu seinem Tod beschäftigt.

Damit endet die politische Phase in seinem kurzen Leben. Es folgt die Künstlerische. Alle Werke entstehen erst jetzt. Es finden sich erstaunlich wenig Spuren des politischen Büchners im künstlerischen wieder. Auch überlieferte Äußerungen und erhaltene Briefe sind frei davon. Sicher, er musste vorsichtig sein. Wäre er in Straßburg politisch auffällig geworden, hätte das gegebenenfalls Ausweisung und Kerker in Hessen bedeutet. Und doch. Bei anderen Exilanten ist die Haltung immer noch spürbar. Büchner scheint den Schalter umgelegt zu haben. Seine Texte sind radikal – aber nicht im politischen Sinn. Die Stoßrichtung des Hessischen LandbotenFriede den Hütten. Krieg den Palästen.“ taucht nirgends auf. Das dort angesprochene „einfache“ Volk ist, wenn es in seinen späteren Werken erscheint dumm, ungebildet und leicht beeinflussbar. Warum die Abkehr? Sind es die schlechten Erfahrungen seines gescheiterten Umsturzversuches durch Propaganda? Oder hat er den Glauben an die Kraft der Unterdrückten, sich vom Joch zu befreien, verloren? Oder hat er ein Thema gefunden, das größer ist als das politische Tagesgeschäft?

Natürlich wird Woyzeck immer wieder als soziale Anklage gelesen. Ja, er fristet sein Dasein unter unerträglichen Bedingungen, die die im Stück gestellte Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet, provoziert. Aber geht es um die Veränderung der Verhältnisse? Woyzeck hat eine Aufgabe, einen Sinn, einen Haltepunkt: seine Kleinfamilie. Dafür tut er alles, dafür schuftet er, dafür lässt er sich erniedrigen. Dann bricht dieser Punkt weg – und es kommt zur Katastrophe. Um diese literarische „Untersuchung“ an einer Figur zu machen, musste Büchner ihn zum armen Schwein machen, der nur diesen einzigen Halt hat. Woyzeck ist eher menschliche Studie als soziale Kritik.

Der Literat Büchner ist kein Revolutionär mehr. Sein Menschenbild ist nicht das der unterdrückten Masse, sondern eher das des isolierten Individuums. Auch das Revolutionsdrama Danton ist von diesem geprägt.

Herault
Jeder muss sich geltend machen und seine Natur durchsetzen können. Er mag nun vernünftig oder unvernünftig sein, gebildet oder ungebildet, gut oder böse sein, das geht den Staat nichts an. (...) Jeder muss auf seine Art genießen können, jedoch so, dass keiner auf Unkosten des Anderen genießen oder ihn in seinem eigentümlichen Genuss stören darf. (1.1)

Es sind die Sätze eines Liberalen, nicht die eines linken Revolutionärs.

Es gibt weitere Brüche zwischen Leben und Werk. Alle seine Figuren stehen am Rand. Am Oberen oder Unteren. Ein normales, bürgerliches Leben kommt für sie nicht in Frage. Entweder ist es unerreichbar weit weg (Woyzeck, Lenz) oder wird als Ameisengewimmel von oben sarkastisch verachtet (Danton, Leonce). Doch genau nach diesen bürgerlichen Arbeits-, Lebens- oder Moralvorstellungen hat Büchner sein eigenes Leben strikt ausgerichtet. Darin weicht er keinen Deut von den Vorstellungen seiner Familie ab, die sich, in langer Medizinertradition mit protestantischem Arbeits-Ethos als Amtsärzte Ansehen verschafft hat. Im Gegenteil: Büchner war strebsam, zielgerichtet und hochgradig fleißig. Als Anatom bestand die Hauptaufgabe im Sezieren und der Herstellung von Präparaten. Allein für seine Doktorarbeit „Über die Schädelnerven der Flussbarben“ hat Büchner nächtelang hunderte von Fischen seziert. Sein Studium, seinen Abschluss, seine Berufung als Professor an die Universität Zürich kann – trotz der existentiellen Einschränkung von Flucht und Exil! – als außerordentlich steile Karriere betrachtet werden. Büchner lebt das Gegenteil seiner Figuren.

Genauso in Liebesdingen. Zu einer weiteren Gemeinsamkeit mit Goethe gehört der Straßburg-Aufenthalt mit Damenbekanntschaft. Doch während dieser sich nicht binden will und weiter zieht, verlobt sich Büchner mit der schon erwähnten Pfarrerstochter Wilhelmine Jaegle. Mehr Abenteuer sind nicht bekannt.

Ihr dürfte er nicht die Passagen aus seinen Werken vorgelesen haben, in denen es vor Trieb nur so strotzt.

Danton
Möchte man nicht drunter springen, sich die Hosen vom Leib reißen und sich über den Hintern begatten wie die Hunde auf der Gasse? (2.2)

Von Wilhelmine weiß man nicht viel und niemand war dabei. Wenn man jedoch davon ausgeht, wie rigoros sie später mit dem Werk Büchners umging, kommt man nicht umhin, zu vermuten, dass Büchner als Verlobter und Büchner als Autor zwei verschiedene Menschen waren.

Eine weitere Spaltung empfinde ich in Fragen nach der Religion. Wie das Triebhafte durchziehen Zitate oder biblische Bilder Büchners Werk mit auffallender Deutlichkeit. Büchner entstammt einer protestantisch geprägten Familie. Von praktizierter Religion ist bei ihm später nichts bekannt. Es scheint zum Bruch gekommen zu sein. Und doch sind Bibel und Christentum stark in ihm drin. Der Bruch ist frisch, hart und endgültig. In einer von der Handlung losgelösten Diskussion wird im Danton die Nichtexistenz Gottes scharfsinnig und konsequent begründet.

Payne
Wie wollen Sie denn aus einer unvollkommenen Wirkung auf eine vollkommene Ursache schließen? (3.1)

Büchners Figuren bewegen sich isoliert in dünner Luft. Sie wissen, es gibt keinen Gott. Niemand wird sie retten. Nichts wird sein. Aber die Erinnerung, der Nachhall ist noch da.

Was zu dieser schillernden Ambivalenz, diesem losgelösten Gefühl völliger Unverbindlichkeit passt, ist die Rezeptionsgeschichte Georg Büchners. Spät aber gewaltig ging sie los. Quer durch alle Lager. Ob von rechts oder vor allem von links, ob Nationalsozialisten oder Kommunisten, ob DDR oder BRD, die Studenten von 68 fanden ihren Büchner ebenso wie die Lehrpläne der Schulen und die Spielpläne der Theater. In der Spielzeit 2016/17 haben nach Angaben des Deutschen Bühnenvereins 53.000 Zuschauer in 259 Vorstellungen seinen Worten gelauscht, bzw. beim Versuch ihrer Verkörperung zu gesehen. Das ist für einen Autoren, der nur drei Stücke geschrieben hat, eine Menge.

Die vielseitige Les-, Nutz- und Einsetzbarbarkeit seiner Texte hat nichts mit politischer Beliebigkeit zu tun. Sie ist ein Hinweis darauf, dass es Büchner um etwas Anderes, etwas Höheres, etwas Grundsätzlicheres geht. Seine Figuren erschrecken darüber, was uns heute selbstverständlich ist: Den völligen Zerfall jeder übergeordneten Verbindlichkeit unter der Fahne der individuellen Freiheit. Loslösung von haltenden Kontexten selbst jener der Familie, der Überforderung in der Isolation, die die Chance zur Ichwerdung sein soll. Sie hören noch den Schrecken, der in dem Satz, dass jeder seines Glückes Schmied sei, steckt. Du bist alleine – mach was draus. Wir haben uns daran gewöhnt, manchmal wundern wir uns, gelegentlich sind wir entsetzt über eine Säkularisierung, die vor nichts halt und den einzelnen Menschen zu einem datenliefernden Mini-Atom macht. Es geht nicht darum, die Zeit zurück zu drehen. Das wird nicht gelingen. Aber wir können Figuren lauschen, die jenes Entsetzen ganz unmittelbar erleben, damit spielen, darüber lachen – bevor sie daran zerbrechen.

 

Büchners Arbeit

Einzig Danton ist zu Lebzeiten gedruckt (wenn auch, wie schon erwähnt, entschärft). Alle anderen Texte sind Fragmente. Ihre heutige, uns vorliegende Form, die Reihenfolge der Szenen ist Entscheidung der nachfolgenden Nachlassverwalter und Germanisten – oder derjenigen, die sie auf die Bühne bringen.

Schon immer beruhten Dramen, ob historisch oder nicht, auf realen Vorlagen, auf Quellen. Büchner geht einen Schritt weiter. Er baut die Vorlagen in seine Texte ein, zitiert weite Passagen, andere verändert er. Büchner sampelt. Bei Dantons Tod war es die Zeitschrift Unsere Zeit – eine geschichtliche Übersicht der merkwürdigsten Ereignisse von 1789 bis 1830, bei Lenz der Bericht des Pfarrers Oberlin, den er nach dem Besuch des Sturm und Drang-Dichters Jacob Michael Reinhold Lenz verfasste, bei Leonce und Lena Brentanos Komödie Ponce de Leon und bei Woyzeck das gerichtspsychiatrische Gutachten Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen von Johann Christian August Clarus. Dazu kommen Volkslieder, Anleihen bei anderen Autoren insbesondere Shakespeare, die erwähnten Zitate aus der Bibel, immer wieder Anspielungen auf Zeitgenössisches.

Jedes seiner vier Werke stellt ein eigenes Genre dar. Dantons Tod definiert das Geschichtsdrama neu, Lenz ist ein Prosatext über das Abgleiten in den Wahnsinn, Leonce und Lena, ein Lustspiel, eher die romantische Komödie eines Lustspiels und Woyzeck surreal-reales, minimalistisches Werk durch einen Kriminalfall inspiriert.

Die Literaturwissenschaft staunt ungläubig, fasziniert, entzückt über die Artenvielfalt der Stile in Büchners Werk. Obwohl es viele von ihnen zu seinen Lebzeiten noch gar nicht gab, stoßen wir auf realistische, surrealistische, impressionistische, expressionistische, romantische, kabarettistische, manchmal regelrecht dadaistische Elemente. Büchner hat die Vielfalt der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten gesucht, um den einen Punkt, das große Erschrecken über die ungebundene Isolation des neuen Menschen, auszudrücken. Auch das mutet uns bekannt an.

Die Welt heute wirkt an ihrer Oberfläche bunt, sehr bunt. Ihre Erscheinungen sind mannigfaltig und wechseln schnell. Verschiedene Angebote, Reize, Stile, folgen in hoher Taktung aufeinander und finden nebeneinander statt. Bindung entsteht für den Augenblick. Dann fliegen wir weiter.

Dieses unverbundene Gefühl haben besonders seine männlichen Figuren. Die Haltlosigkeit macht ihre Sprache leicht. Sie sind virtuose Fabulierer. Sie schaffen es, auf wenig Raum messerscharfe, tief romantische, schräg verzerrte Bilder mit geistreichen und derben Scherzen zu verbinden. Was uns heute die Erscheinungen sind, von denen wir wähnen, dass sich in ihnen unser Leben widerspiegelt, ist bei Büchner die Sprache. Reden, um zu sein. Reden, um dem Nichts etwas entgegen zu setzen. Reden, um ein Geräusch zu machen. Nur nicht verstummen. Da wartet das Grab.

Büchners Werk

Der Hessische Landbote

Politische Kampfschrift und Aufruf zur Revolte mit einer Mischung aus Fakten und Agitation. Gilt als einer der Besten der deutschsprachigen Literatur. Einerseits wird der hessischen Landbevölkerung vorgerechnet, wie sie von der Obrigkeit betrogen wird. Die Ärmsten tragen eine Steuerlast, die zu einem großen Teil zu ihrer eigenen Unterdrückung eingesetzt wird. Andererseits spicken zahlreiche biblische Bilder den Text, die die Unterdrücker als teuflische Elemente darstellen. Büchner hat den Text mit dem Geistlichen Weidig, der wie er 1837 unter grausamen Umständen in der Kerkerhaft starb, verfasst. Es ist unklar, welche Passagen von wem sind.

Dantons Tod

Erstling nach Ende Büchners politisch-revolutionärem Engagements. Einziges von ihm selber fertig gestelltes und gedruckt-veröffentlichtes Werk. Vergleichsweise umfangreich und komplex, 4 Akte. 1794, fünf Jahre nach Beginn der Revolution mit dem Sturm auf die Bastille, die Stände entmachtet, der König tot, Kriege geführt. Die einstigen Revolutionäre sind zerfallen in Gruppierungen, von denen einige bereits Bekanntschaft mit der Guillotine machten. Es ist die Zeit der Schreckensherrschaft, in der jeden Tag Karren mit Delinquenten zum Pariser Revolutionsplatz fahren. Danton und seine Gesinnungsgenossen vertreten eine gemäßigte Haltung mit Hang zu Genuss und fleischlichen Freuden. In ihrem Gegenspieler Robespierre radikalisiert sich die Revolution durch die Diktatur der Tugend. Ihm kommt zu Gute, dass die materielle Lage des Volkes nach wie vor schlecht ist. Es hungert und muss sich prostituieren. Da kommen Opfer recht. Bereits Anfang des 3. Aktes wird die Gruppe um Danton verhaftet. Eine viel zu späte Gegenwehr des lebensmüde wirkenden Dantons kann ihren Untergang nicht aufhalten. Zwei Akte lang sieht man die Gruppe in Angesicht des nahenden Todes philosophieren. Am Ende besteigen sie das Blutgerüst.

Lenz

Prosatext, gelegentlich für die Bühne adaptiert. Über den Sturm und Drang Dichter Jacob Michael Reinhold Lenz, Zeitgenosse und Bekannter des jungen Goethe. Anders als dieser ist Lenz eine durch und durch unglückliche Figur. Er besucht, historisch belegt, die von Goethe in Straßburg verlassene Friedericke Brion. Es kommt jedoch keine Verbindung zu Stande. Darauf sucht der von Zuständen und Ängsten geplagte Lenz bei dem elsässischen Pfarrer Oberlin Zuflucht, der einen Bericht darüber verfasst. Dieser ist Basis des Büchner-Textes. Er schildert, wie Lenz zu Oberlin kommt, von ihm aufgenommen wird. Zuerst geht es ihm gut. Der tätige in seinem Glauben gefestigte Oberlin kann ihm Halt geben. Doch sobald er allein ist, kommt die Angst. Sein Zustand verschlechtert sich. Er versucht sich mehrfach, Leid anzutun. Schließlich ist er für den Pfarrer nicht mehr tragbar und wird unter Bewachung zurück nach Straßburg gebracht. Da bricht der Text ab. Anrührende Versuche von Lenz, etwa der Versuch der Wiedererweckung eines toten Kindes, seine schreckliche Angst, die wohltuende aber letztlich hilflose Anwesenheit des guten Oberlin wechseln mit grandiosen Beschreibungen des Gebirges in der ihn umgebenden Landschaft ab.

Leonce und Lena

Für einen Lustspielwettbewerb geschrieben, zu spät abgeschickt, ungeöffnet zurück –umgearbeitet, nicht fertig gestellt. Mehr ein Spiel mit dem Genre als ein Lustspiel selber. Dabei nutzt Büchner gängige Versatzstücke, vereinfacht und stellt sie aus. Prinz Leonce aus dem Reiche Popo soll die ihm unbekannte Prinzessin Lena aus dem Reiche Pipi heiraten. Beide wollen die Lebensbindung an Unbekannt nicht, fliehen, treffen sich zufällig, ohne zu ahnen wer der/die andere ist, verlieben sich und heiraten schließlich. Hinter diesem ebenso heiteren wie schlichten Korsett geht es deutlich schattiger und komplexer zu. Der Prinz, umgeben von Langeweile und tiefer Sinnlosigkeit. Die Prinzessin voller Todessehnsucht nach einem vorbewussten Urzustand. Zwei verlorene Seelen finden und retten sich am Ende in ein phantastisches Utopia. Unter der lustigen Oberfläche lauert Bodenlosigkeit.

Woyzeck

Fragment. Nach einem realen Fall, der nicht nur die medizinische Fach-Öffentlichkeit beschäftigte. In Leipzig bringt ein arbeitsloser Friseur seine ältere Geliebte um. Motiv: Eifersucht. In dem Prozess geht es darum, inwieweit Woyzeck zurechnungsfähig und für seine Tat verantwortlich gemacht werden kann. Ein Gutachter erklärt ihn für schuldfähig. Der historische Woyzeck wird öffentlich enthauptet. Woyzeck ist das vielleicht einflussreichste Stück Büchners. Sind Figuren wie Danton oder Leonce im Geiste verwandte durch den leeren Raum irrende Einmannraumschiffe, wird im Woyzeck das Thema von der umgekehrten Richtung angegangen. Woyzeck, bei Büchner einfacher Garnisonssoldat, sozial unten stehend, ist vollständig eingebunden. In seinen Dienst, in seine Kleinfamilie, in seine Zusatzverdienste, mit denen er versucht, diese zu ernähren. Als Marie, die Mutter seines unehelichen Kindes, fremd geht, verliert er diesen zentralen Halt und bringt sie um. So irrwitzig ungerecht es auch zu geht, so scheint die soziale Hierarchie zunächst eine Ordnung zu schaffen, die einen – wenn auch pervertieren – Halt gibt. Doch selbst da bleibt Büchner sich treu und Woyzeck ein echter Büchner: Der Vorlage gemäß weiß er, dass der Boden hohl ist und die Welt nicht das, was ihre Erscheinungen zu sein vorgeben. Wenn der kleine, aber konkrete Halt ist brüchig wird, entsteht Komplett-Auflösung in einem Mord.

Büchners Themen

Auch wenn die Texte Büchners wie von verschiedenen Sternen sind, haben sie Grundtöne. Es sind immer wiederkehrende Themenfelder. Ich konzentriere mich auf vier von ihnen.

Thema 1: Tod

Lena: Der Tod ist der seligste Traum.
Leonce: So lass mich dein Todesengel sein. (2.4)

Der Tod ist ständig präsent im Werk Büchners. Bei Danton schon im Titel, endet das vieraktige Stück mit der öffentlichen Hinrichtung durch die Guillotine. Ab Beginn des dritten Aktes, genau zur Hälfte also, sind Danton und seine Freunde gefangen und damit ganz konkret mit ihrem baldigen Tod konfrontiert. In mehreren Szenen sehen wir sie in Luxemburg oder der Concergerie auf das Finale wartend, über das Ende philosophierend und ihre scherzhaften bis verzweifelten Versuche, die Angst mit Worten zu füllen.

Im Lenz versucht der kranke Lenz ein totes Kind wieder zum Leben zu erwecken und zerbricht an seinem Misserfolg. Beim Lustspiel Leonce und Lena bringt das erste Mal Rosetta den Tod ins Spiel, dann am Ende des ersten Aktes Lena, die, kaum erwacht gleich wieder sterben will. In der sehr romantischen Nacht, als die Liebe als ein schöner Ausweg erscheint, sprechen die beiden fast ausschließlich in Todesmetaphern. Woyzeck dreht die Perspektive um. Er verübt einen Mord. Auch hier ist der Tod präsent und wird immer wieder erwähnt. Beginn der Lesefassung:

Woyzeck: a Andres; den Streif da über das Gras hin, da rollt abends der Kopf ...

Der Tod spielt in Büchners Leben eine Rolle. Als ältester Sohn einer Arzt-Familie (in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht zu vergleichen mit dem Berufsstand heute), eine Zeit seiner Kindheit in einer Dienstwohnung bei einem Armenhaus wohnend, für das der Vater auch zuständig war, hatte Büchner früh mit Krankheit, Elend, Wahnsinn, Sterben, und dem Tod Kontakt – jedenfalls mehr als andere. Ein wesentlicher Teil seines Studiums bestand im Sezieren von Leichen. Büchner machte die Anatomie, das Sezieren, das Herstellen von Präparaten zu seinem weiteren beruflichen Weg, spezialisierte sich später auf Fische, deren Nervensystem er untersuchte.

Sein früher Tod. Es ist müßig darüber zu spekulieren, in wie weit ein Gefühl, der Tod schwebe über ihm, sein Leben und Schaffen beeinflusst hat. Aber seine einzigartige Präsenz in seinem Werk, die Rastlosigkeit, mit der Büchner innerhalb kürzester Zeit wissenschaftlich und künstlerisch produziert hat, klingt wie Eile. Büchner wirkt nicht wie jemand, der Zeit hat.

Entscheidender ist die Funktion, die der Tod in seinem Werk hat. Er ist der einzige Ankerpunkt seiner Figuren, die sonst keinen haben. Das Grab ist klar. Sterben Gewissheit. Damit wird der Tod die Folie für alles Bewegliche, alle Taten, Gedanken, Bemühungen. Gewissermaßen stehen sie auf dem Tod. Er ist der Boden, die Erde, von der alles Leben wegstrebt, um nach einer Spanne dorthin wieder zurück zu kehren. Auch beschreibt der Tod die vollständige Vereinzelung. Sterben müssen und werden wir alleine. Vor diesem Hintergrund ist jedes „Wir“ eine phasenweise besänftigende Illusion. Als einziger Autor erreicht Büchner damit die Dimension antiker Tragödien. Ist auch dort das Individuum zur Vernichtung verdammt, sobald es sich formuliert. Doch es gibt den Chor, die Polis, die Gemeinschaft. Diesen Glauben opfert der weitere Säkularisierungsprozess und ersetzt ihn durch ein schöpferisches „Ich“. Büchner, selbst in hohem Maße produktiv, hält das für eine Illusion. Vor allen anderen erkennt er, dass der Ich-Mensch verloren ist. Es ist eine Zustandsbeschreibung, die keine Erlösung kennt. Höchstens und vielleicht deswegen statt dessen viele schöne, bunte Blasen, Gebilde und kluge Worte produziert.

Thema 2: Trieb

Marion: Aber ich wurde wie ein Meer, das alles verschlang und sich tiefer und tiefer wühlte. Es war für mich nur ein Gegensatz da, alle Männer verschmolzen in einen Leib. Meine Natur war einmal so, wer kann drüber hinaus?
(Danton 1.5)

Das Thema Sex ist im Danton von Anfang an präsent. Danton und seine Herrengruppe haben regen Umgang mit Prostituierten und lieben es auch, in teilweise raffinierten Anspielungen und Bildern davon zu sprechen. Wie schon erwähnt, mussten diese für damalige Verhältnisse klar pornographischen Textstellen vor dem Druck (zur Erinnerung: Danton ist das einzige Werk Büchners, dem zu seinen Lebzeiten diese Chance zuteil wurde) entschärft werden. Dann der atemberaubende Monolog Marions, der endet:

Wer am Meisten genießt, betet am Meisten. (1.5)

Bei Leonce und Lena steht Valerio für den Trieb, der das Leben ganz pragmatisch in Form der primären Genüsse wie fressen, saufen, faulenzen, angeht und auch um keine Zote unter der Gürtellinie verlegen ist, während die Titelhelden in ferneren Sphären unterwegs sind. Lenz hat keinen Trieb, er ist getrieben. Und im Woyzeck ist der Trieb Auslöser und treibt Woyzeck zum Mord.

Büchner selbst kennt höchstens einen Produktivitäts-, einen Karrieretrieb, der vielleicht eine Art des Überlebenstriebs ist. Dass er sich körperlich wie seine Figuren treiben lässt, darauf gibt es bei dem Frühverlobten, Frühgebundenen keine Hinweise. Was haben all die triebhaften Worte in seinen Stücken zu suchen? Der Trieb ist neben dem Tod die zweite Gewissheit. Er ist das Leben. In der Phase zwischen Geburt und Grab sind die Körper getrieben. Atmen, Essen, trinken, fortpflanzen. Das ist es. Alles andere sind verzweifelte Versuche, die die Dummen für Wirklichkeit halten, während die Klugen wissen: keine Philosophie hält Tod und Trieb auf. Und das sagt jemand, der schwindelerregend weit denkt. Seine Figuren sprechen sich zuweilen in dünnluftige Höhen hinauf. Aber es sind Worte. Ihre Brillanz wärmt nicht. Sie können den Sündenfall nicht rückgängig machen. Der Trieb dagegen, als Ausdruck der puren Physis, ist da. Immer und ewig, unaufhaltsam. Der Trieb ist wirklich. Worte sind Schallwellen.

Die Helden seiner Stücke empfinden das. Und was tun sie? Weiter sprechen, weiter Witze machen, geistreich sein, brillante Reden führen, die Zeit damit ausfüllen. Es gibt ja nichts anderes. Aber auch das Reden hilft am Ende nichts. Es bleibt, wie es ist. Man kommt fröhlich sprechend über die Runden, sich vom dem ablenkend, was unweigerlich ist. Das kommt uns bekannt vor. Die Industrie tut es zu ihrem großen Vorteil für uns heute.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Anatom Büchner, der viel mit (toten) Körpern zu tun hat, die menschliche Grundausstattung erst einmal physisch, also materiell sieht. Doch in einer Zeit, die am Beginn einer Entwicklung steht, die jede Bindung bis in die Familien hinein auflösen wird, kann man als Künstler den sich auftuenden Abgrund radikaler nicht beschreiben. Büchner hat sich von dem konkret-politischen Engagement entfernt und ist auf eine schwindelerregende Meta-Ebene geklettert. Als erster von allen. Wirklich sind Trieb und Tod. Der Rest Worte.

Thema 3: Entfremdung

2. Herr: Ja, die Erde ist eine dünne Kruste, ich meine immer ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist. ( Danton 2.2)

Das Nichts des Grabes in sich tragend, den ewigen Trieb verspürend, bewegen sich die Figuren Büchners in dünner Luft und auf brüchigem Boden. Obwohl mitunter viel gesprochen wird, sind sie einsam. Danton sagt es ganz zu Beginn seiner Frau Julie:

Julie: Du kennst mich Danton.

Danton: Ja, was man so kennen heißt. Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst zu mir immer: lieb Georg. Aber (er deutet ihr auf Stirn und Augen) da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken aus dem Hirn zerren. (1.1)

Der „Riss in der Schöpfung“, in den Kleist mit Schrecken hinab blickt, ist bei Büchner zum

Dauerzustand geworden. Er hat seinen Geschöpfen die Bindung an Gewissheiten genommen. Fliehkräfte treiben sie in einen leeren Raum an den Rand des Wahnsinns; insbesondere, wenn sie allein sind.

Leonce: Ich sitze wie unter einer Luftpumpe. Die Luft ist so scharf und dünn, dass mich friert, als solle ich in Nankinhosen Schlittschuh laufen.

Und später:

Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen einander mit todmüden Augen an.

Welche Bilder! Welche Sprache! Sprachmächtig sind sie, seine Figuren. Die Sprache haben sie und jonglieren damit über dem Abgrund, spielen Ping Pong, finden ungeheure Bilder, die man noch nie gehört hat, die einen jedoch oft sofort und überscharf anspringen. Und sie wissen um die brillante Nichtrelevanz der Worte. Leonce, kurz darauf:

Leonce: Komm Leonce, halte mir einen Monolog, ich will zuhören. (1.3)

Und im Danton fragt nach einer längeren Rede Camille seine Frau:

Camille: Was sagst du Lucile?
Lucile: Nichts, ich seh dich so gern sprechen. (2.3)

Lenz hat die Sphäre des normalen Bodens bereits verlassen, wenn ich durch das elsässische Gebirge stapft. Der Text geht los mit:

Den 20. ging Lenz durch’ Gebirg. Die Gipfel der hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Wiesen und Tannen ... Müdigkeit verspürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte.

Im Laufe der Erzählung sehen wir ihm zu, wie er verzweifelt kämpft. Immer, wenn er allein ist, kommt die Angst. Schließlich wird sie übermächtig. Lenz’ Entfremdung ist unheilbar und durch nichts wieder zurück zu holen.

Interessant ist, dass im Woyzeck, dem umgekehrt konstruierten Drama, das über die Bindung (Kleinfamilie, Arbeit, Zusatzverdienste) der Held auch nicht ohne Entfremdung, Entrückung auskommt.

Woyzeck: Es geht hinter mir, unter mir (stampft auf den Boden) hohl, hörst du’s? Alles hohl da unten.

Es scheint so, dass ein Zustand jenseits gefasster Normalität die einzige mögliche Antwort und Konsequenz auf die atemberaubende Loslösung von allem ist. Wer keinen Sinn hat, wer nicht zueinander kommen kann, für den ist die Spanne zwischen Geburt und Grab ein bunter Bilderbogen, ein Traum, eine Idee, die so oder ganz anders lauten könnte.

Thema 4: Religion

Marie: Herrgott Herrgott! Gib mir nur so viel, dass ich beten kann.

Büchner stammt aus einem praktizierend protestantischen Elternhaus. Seine Braut ist die Tochter eines Pfarrers. Immer wieder hat er Umgang mit Geistlichen oder Theologie- Studenten. Er muss irgendwann abgefallen sein. Es gibt keine Hinweise auf einen Glauben bei ihm. Und doch sind biblische Zitate, Anspielungen, christliche Bilder eines seiner hausstechenden Grundmotive. Der Glaube ist ungemein präsent – aber er ist nicht da.

Robespierre: Wahrlich des Menschensohn wird in uns allen gekreuzigt, wir ringen alle im Gethsemanegarten im blutigen Schweiß, aber es erlöst keiner den anderen mit seinen Wunden.... Es ist alles wüst und leer – ich bin allein. (1.6)

Manchmal geistreich, oft in verzweifeltem Anruf werden die biblischen Bilder bemüht. Gelegentlich subtil und unterschwellig, etwa wenn Danton den Henker fragt, ob er denn verhindern könne, dass sich ihre abgeschlagenen Köpfe im Korb küssen. In dem schon erwähnten „Religionsgespräch“ im Danton (3.1) wird der Atheismus von verschiedenen Seiten bewiesen:

Herault: Man könnte aber auch sagen, damit Gott Alles sei, müsse er auch sein eignes Gegenteil sein, d.h. vollkommen und unvollkommen, bös und gut. Selig und leidend, das Resultat würde freilich gleich null sein, es würde sich gegenseitig heben, wir kämen zum Nichts.

Und das sagen die Todgeweihten!

Lenz ist ein einziges Ringen um Heil, immer mit dem gütigen und gläubigen Pfarrer Oberlin an der Seite.

Auch Lena hat diese Bindung noch. Es ist zu Beginn neben Naturmetaphern ihre einzige Sprache. In der Wohlfühl-Utopie am Ende schrumpft der Glaube zur kommoden Religion.

Und im Woyzeck quillt der heillose Glaube als Angstschweiß aus jeder Zeile. Hier sei das berühmte Märchen der Großmutter zitiert:

Es war einmal ein arm Kind und hat kein Vater und kein Mutter, war alles tot und niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingegangen und hat gerrt Tag und Nacht. Und wie auf der Erd Niemand mehr war, wollt’s in den Himmel gehen, und der Mond guckt es sich freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gegangen und wie’s zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonnenblum und wie’s zu den Sternen kam warn’s kleine goldene Mücken, die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt, und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen (Krug) und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt und da sitzt es noch und ist ganz allein.

Der Glaube ist präsent und doch auf verzweifelte Weise nicht da. So schreibt jemand, dessen Wunde noch frisch ist. Büchner, gebildet am und mit dem Glauben, konnte die biblischen Heilsversprechungen nicht mehr für wahr halten. Sein Denken, seine Erfahrung mit der Welt, seine Naturwissenschaft sagte ihm etwas anderes. Es ist aber kein verlöschendes Ausglimmen, wie bei der Liebe seines Helden Leonce zu Rosetta, es ist ein Schock, ein Aufschrei, Protest. Seine Figuren klammern an einer Begrifflichkeit, die ihre Bedeutung verloren hat. Ihr Verlust wird durch nichts ersetzt. So sind sie Betrogene, denen kein Richter Recht verschafft.

Thema 5: Humor

Es ist ein Phänomen. Bei kaum einem anderen Autor machen die Figuren soviel Witze – ohne wirklich komisch zu sein. Im Danton folgt ein geistreiches Anspielungsfeuerwerk dem nächsten. Es herrscht ein regelrechter Wettstreit um die geistreichste Replik. Die Herren reden. Und weil sie nicht wirklich etwas zu sagen haben, scherzen sie bis auf die Stufen des Schafotts.

Lenz ist nicht komisch. Der Autor spricht in dem Prosa-Text, nicht die Figur. Man kann es lustig finden, wenn Lenz nächtens, von Angst-Attacken verfolgt, im Brunnen patscht, um wieder zur Besinnung zu kommen. Doch Lachen will bei dieser berührenden Schilderung eines geplagten Menschen nicht aufkommen.

Zurück auf der Bühne sieht es schon besser aus. Leonce und Valerio liefern sich in bester Shakespeare-Manier wahre Wettkämpfe in einem Feuerwerk der geistreichen Wortwendungen. Der Prinzenvater König Peter ist eine Knallcharge allerdümmster Preisklasse und mit der Gouvernante steht Prinzessin Lena eine klassische Komödienfigur zur Seite. Im Woyzeck wird es wieder dunkler. Immer wieder jedoch blitzen grotesk-absurde Wendungen auf. Ein komisch-literarischer Höhepunkt sind die Figuren des Doktors und des Hauptmanns. Niemand kann Einfalt und Dummheit so lebensecht zeigen wie Büchner. In ihrer gefährlichen Harmlosigkeit sind sie bizarr und real-bedrohlich zugleich. Sie sind zutiefst lächerlich und machen Angst – weil sie etwas verkörpern, an dem die Welt tatsächlich zu Grunde gehen könnte: Einfalt, Dummheit, Eitelkeit.

Einen zuweilen sehr schrägen, ebenso klugen wie absurden Humor wird Büchner niemand absprechen. Doch Komik braucht einen Wesens-Kern, den man dann in unpassende Zusammenhänge bringt. Die Figuren Büchners haben diesen Kern auf erschreckende Art und Weise nicht. Entkernt suchen sie ihn, ringen um ihn. Dabei machen sie viele Witze. Ein schallendes Gelächter entsteht so nicht.

Weitere Themen

Romantik

Beeinflusst Büchner stark. Durch seine Texte ziehen sich immer wieder Naturbilder von eigentümlicher Schärfe. Sie gehen manchmal bis ins Surreale, aber immer bleiben die Bilder sinnlich und konkret. Die Natur als Spiegel menschlicher Seelenzustände. Kraftvoll strahlend, düster drohend, weit entfernt, rätselhaft, ewig und unerreichbar. Sie bettet nicht ein. Sie ist eine grandiose Folie vor der mückenhaft menschlichen Sirr-Bewegung.

Wissenschaft

Das Zergliedern von toten Lebewesen bleibt auch im literarischen Werk präsent. Büchner schüttet in der Figur des Doktors im Woyzeck Hohn und Spott über eine Zunft aus, die sich wähnt, der Sache durch Erbsenzählerei auf den Grund zu gehen. Aber auch an anderen Stellen taucht die Verachtung für das, womit er mit großem Engagement den Hauptteil seiner knappen Schaffenszeit verbringt, auf. Sein Dichter-Ich scheint zu wissen, während sein Anatomie- und Karriere-Ich fleißig weiter seziert. Eine frühe Fundamentalkritik am Katalogisieren, Nummerieren und Archivieren.

Philosophie

Der kühne, schwindelerregende Wurf Büchners schreit nach einer Auseinandersetzung nicht nur mit der Religion, sondern auch mit der Philosophie seiner Zeit. Immer wieder werden gängige Strömungen zitiert, persifliert und abstrahiert bis hin ins Konkrete. In ihrem luftleeren Raum haben die Figuren Büchners Zeit, sich Gedanken zu machen und diese zu äußern. Ihre Fragen sind grundlegend. Aber ebenso wenig wie die biblischen Verheißungen schaffen es die klugen Gedanken, Halt zu geben.

Büchners Praxis

Es gibt, wie bei jedem Umgang mit alten Texten, die ebenso wunderbare wie reichhaltige Gelegenheit für eine Reise in die Vergangenheit, um heraus zu bekommen, wie die Welt damals beschaffen war, was die Menschen umgetrieben hat, welche Ängste, Nöte und Träume sie hatten. Das ist kein toter Geschichtsunterricht, sondern ein lebendiges Recherchieren, ein Hineindenken, Hineinfühlen, gerne auch unter Zuhilfenahme von Bildern, Musik und Filmen (wenn verfügbar). Es ist – auch – ein relevanter Auftrag, kulturelle Bildung zu ermöglichen – gerade für diejenigen, die nicht viel Kontakt mit diesem Bereich hatten. Kultur – im weitesten Sinn – kommt immer wo her und geht wo hin. Um ein Gefühl für unser Heute zu bekommen, ist der Blick zurück sinnvoll. Im Großen wie im Kleinen. Im Besonderen wie im Allgemeinen. Biographiearbeit, Familiengeschichte kann in einen anderen Kontext gestellt werden. Ebenso politisch-gesellschaftliche Phänomene, die wir heute wahrnehmen, die in der Büchnerzeit relevant waren. Die französische Revolution im Danton bietet noch eine zusätzliche Gelegenheit. An den Theatertagen kann das geschehen, ebenso wie im Bewerbungsmanagement.

Dazu ist eine offene, neugierige und gewissermaßen auch fleißige Vorbereitung mit Büchner derjenigen, die Gruppen leiten, also euch, liebe LeserInnen, die Voraussetzung. Das Thema sollte zumindest in groben Zügen aufbereitet sein, bevor es auf die Gruppe trifft. Sonst folgt Abwehr und die gewohnte Frustration, ausgeschlossen zu sein. Um alle mit zu nehmen, müssen wir dem Thema mächtig und in der Lage sein, die Gruppen den Weg hinein zu führen. Das gleiche gilt auch für den Text. Er ist nicht einfach, da Büchner sich in einem Meer von Bezügen, Zitaten, Anspielungen bewegt. Ich finde, man braucht nicht alles. Da manche seiner Figuren reden, um ein Geräusch in der Welt zu machen, darf gekürzt werden. Wozu ein Verweis, dessen Bezug man heute gar nicht mehr verstehen kann. Es gibt noch genug. Denn wir wollen die Menschen nicht um das große Vergnügen bringen, in die Sprache Büchners einzusteigen. Sie ist einzigartig klar, scharf und kommt wie von einem anderen Stern. Also nicht zu schnell vereinfachen, modernisieren, glätten. Auch empfehle ich, nicht nur Fläche, sondern in die Tiefe zu gehen. Sich also eine kurze Stelle zu suchen und sie wirklich zu ergründen. Wort für Wort. Gerade dann wird die Abgründigkeit, die Modernität und Genialität dieses Autors deutlich.

Seine Figuren springen die Projekt-Realität teilweise regelrecht an. Doch es wäre zu kurz gesprungen, aus einem Danton einen Arbeitslosen zu machen, der an keine Revolution mehr glaubt, aus Leonce den Gelangweilten, der keinen Sinn mehr sieht und aus Woyzeck einen getretenen Underdog einer bösen Welt. Was Büchner aufreißt, geht tiefer. Es ist der beängstigende Blick auf das moderne, isolierte Ich, dass sich dem Markt ausliefert, der verspricht, es mit seinen Produkten wieder zu verbinden. Jeder spürt diesen Betrug, rational oder intuitiv, aber niemand tut etwas dagegen, weil es keine Alternativen zu geben scheint. Wir leben mit und auf und in diesem Bruch. Das verbindet uns mit Büchner, der selber ein sehr früher Vertreter dieses gebrochenen Menschen ist, der diese Loslösung in einer Zeit formuliert, die unfassbar viel geschlossener war als unsere heutige. Ein Hellsichtiger wie er hat die Anzeichen erkannt. Er hat sie in Figuren, in Dialoge, in seine Stücke gepackt. Während wir uns mitten drin in dieser Entwicklung befinden, formuliert sie Büchner als einer der Ersten. Es ist wie die messbaren Signale, die Nachhall des Urknalls sind. Über Büchner kommen wir zu unseren großen Themen. Er hat sie uns voraus gesagt.

Was er beschreibt ist groß, grundsätzlich und nicht besonders erfreulich. Damit erreicht Büchner eine moderne Dimension antiker Fallhöhe. Die 2500 Jahre alten Tragödien stellten das Individuum auf die Bühne, zeigten es der Menge, machten es groß und schillernd, um es dann genüsslich öffentlich zu zerstören. Auf den einzelnen Menschen bezogen, ist die griechische Tragödie vernichtend. Trotzdem beschäftigen wir uns mit ihr und gewinnen durch sie individuelle Kraft. Tragische Figuren wie Ödipus oder Antigone haben uns geprägt. Auch was Büchner schreibt, will nicht zu dem aufbauenden, positiven Lebensansatz passen, den wir gerne vermitteln wollen. Tod, Entfremdung bis zum Wahnsinn, ein verzweifelt leerer Himmel, eine Welt ohne Sinn sind keine heiteren Themen. Büchner, der in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts unmittelbar vor einer Zeit lebt, die die ganze damalige Welt komplett umstülpen wird, ist vor Samuel Beckett der große Fatalist.

Die behandelten Themen wollen besprochen werden. Vielleicht ist die Auseinandersetzung mit „Tod“ nicht jedermanns Sache. Doch es gibt ihn auch in abgemilderter Form. Abschied, die Reise ins Unbekannte, Alter können eine Folie für Fragen nach dem Sinn, nach Hoffnung, nach Gemeinsamkeit sein. Es geht mit den harten Themen in der Kunst ja nicht darum, uns herunter zu ziehen, zu Verzweifelten an unseren Ohnmacht zu machen. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn Mord und Totschlag etwa aus den Werken Shakespeares strotzen, werden sie gebannt – und das Leben kann ohne sie weiter gehen.

Freudig bejahen tut große Kunst selten. Allzu oft geht es um Scheitern, Tod und Verderben. Unfassbare Verbrechen sind in der Literatur so häufig wie die Buchstaben, aus denen sie besteht. Der Prozess der Verkörperung, sprich die Theaterarbeit, ist dagegen positiv – weswegen wir uns den künstlerischen Mitteln so gerne bedienen. Zu Beginn dieses Readers war die Rede von der Polarität in der Kunst. Hier ist eine Weitere: Düstere Themen werden lebensbejahend und manchmal regelrecht heiter umgesetzt. Das macht Sinn. Denn nur so kann man sich ihnen nähern. Nur so kann man mit ihnen spielen. Nur so kann man sich in Beziehung zu ihnen setzen und wird der eigenen Lebensenergie gewahr.

Die Büchner-Themen sind den Menschen, die an unseren Projekten teilnehmen, nicht unvertraut. Sinnlosigkeit, Ohnmacht, Losgelöstheit haben sie Überlebensstrategien entwickeln lassen. So wie Büchners Figuren ihre Worte, ihre Witzeleien, ihre geistreichen Scharmützel, ihre Spiele nutzen, um die Leere zu füllen, um sinnbildlich im Danton die Gefangenen, die sich ab Mitte des Stückes durch Reden die Zeit bis zum Tod durch die Guillotine verkürzen. So wie wir alle uns bewegen, um das Unausweichliche aus dem Kopf zu bekommen. Nur, dass wir, die zur Zeit Nicht-Langzeitarbeitslosen, das einigermaßen gesellschaftskonform tun, weil zu unseren Überlebens-Strategien zu allererst das Funktionieren gehört. Es ist vielleicht unser größter Trick.

Wir können uns über Büchner den großen Fragen nähern. Wir werden keine Antwort bekommen. Aber wir sind alle in diese leere Welt geworfen. Das verbindet uns. Gemeinsam können wir etwas Schönes machen. Theater spielen zum Beispiel. Es gibt keine Alternative.

Ich wünsche euch im Namen der Projektfabrik ein schöpferisches Büchner-Jahr. Gerne sprechen wir über die Vorlagen, über Büchner, über die Möglichkeiten einer Umsetzung, über konkrete Situationen in den Projekten. Meldet euch, sprecht uns an!

Beáta Nagy, nagy@projektfabrik.org, 01520 9332838
Martin Kreidt, kreidt@projektfabrik.org, 01520 9274484