2015-2016 – Sturm & Drang

Impulsthema 2015/2016

Sturm und Drang

Blicke auf Sturm und Drang

  1. Wenn etwas Neues im Leben geschieht, sind die ersten Eindrücke, rein, klar und stark. Man vergisst sie nicht. Wenn junge Autoren zum ersten Mal in der Kulturgeschichte die Wirklichkeit – sie nennen das Natur – zum Gegenstand ihrer Inspiration machen, entstehen Werke von eigentümlicher Kraft und irritierender Tiefe, Figuren, die in ihrer fremden Bekanntschaft berühren und Sätze sagen, die keine Rhetorik, sondern ein Versuch sind, Äußeres und Inneres in Sprache zu fassen.

    Sie entdecken das menschliche Wesen mit seinen Rätseln, Abgründen, Trieben, aber auch mit seiner Kraft, seiner Schönheit, seiner Einzigartigkeit – aus der die jungen Dichter selber reichlich schöpfen. Sie entdecken die Umwelt mit ihren abgeschmackten Konventionen, ihrer ohnmächtigen Ungerechtigkeit, ihrer banalen Dürftigkeit, aber auch mit ihren Wundern, ihrer Schöpfung, ihrer allumfassenden, nahezu transzendenten Kraft. Sie stellen die Verbindung zwischen Innen und Außen her und der Funke, der aus dieser Spannung entspringt, leuchtet bis heute.

    Weil der Mensch sein Innenleben hat, braucht er in der Welt Raum für seine individuelle Entfaltung, seinen Lebensweg. Wer ihn beschneidet, einengt oder gar nimmt, handelt wider das Leben selbst. Der Ruf: Freiheit! schallt durch den Sturm und Drang. Sie formulieren ihn literarisch, kurz bevor die Massen in den Straßen von Paris aufbegehren und den König köpfen. Sie rufen ihn mit der frischen, klaren Energie Pubertierender, die ihren Ekel vor Welt und elterlicher Ehe zum Ausdruck bringen: krass, überzogen und unverschämt – aber, ach, wie wahr!

    Martin Kreidt

  2. Ungarn in den 80ern. Sozialismus light, mit Auflagen. Nur bestimmte Bücher erscheinen, andere werden nicht neu aufgelegt. Klassik geht immer, wird aber thematisch sortiert. Manches verschwindet in alten Ausgaben. Da fängt die jugendlich Interessierte an zu graben – und findet! Das verbreitet sich, wie ein Feuer. So war es damals mit Goethes Werther.

    Lies mal, das ist cool. Goethe? Ja, glaub’s mir!

    Ich las, und eine neue Welt öffnete sich vor meinen Augen. Wie kann man so genial das Leben und die Natur beobachten, beschreiben, seelisch nachempfinden, gleichzeitig so innig und intim sein? Wie kann man mit voller Kraft in der Welt stehen, das Leben spüren und doch so alleine und verzweifelt sein? Das Buch sprach aus und zu mir. Ich war verwirrt und bestätigt gleichzeitig.

    Genial. Das war die Frage. Wird man Künstler, wenn man genial ist? Wer entscheidet das? Ein Aufnahme- Gremium? Gibt es eine Naturanlage, und ich muss mich damit abfinden, wenn ich sie nicht habe? Ich beschloss damals: Nein, das entscheide ich. Ich entscheide, ob ich eine Künstlerin werde. Klar, ich brauche eine gute Ausbildung, ich brauche Übung. Das wichtigste aber ist mein Wille, der freie Entschluss.

    Wir waren damals in unserer Reisetätigkeit begrenzt. Wenn möglich haben wir die Interrail Karte mehr als ausgenutzt, fast nur in Zügen gesessen und in einem Monat zehn Länder in Europa bereist. Ich fühlte mich damals so, wie Johann Gottfried Herder auf seiner Reise im Jahr 1769 aus Riga nach Straßburg, auf der sein literarisch-philosophischen Dokument, die für den Sturm und Drang vielleicht zentrale Schrift „Journal meiner Reise“ entstand. Er auf dem Meer, ich in einem Interrail Wagon. Alles zurück lassen. Die Seele schwebt im beweglichen Raum. Das Dasein fängt an zu tanzen. Nirgendwo stehen bleiben, immer weiter fahren. Jede neue Station ein neues Wunder.

    Sturm und Drang ist für mich Identifikation, Bestätigung, ein Aufbruch des Seins, eine Vitalität, bei der die Lebenskräfte summen und zischen und wälzen. Ein eindeutiges Ja zur Individualität. Die Zeiten ändern sich. 1771, 1980, 2015. Unsere Umgebung nimmt andere Formen an. Wir lehnen eine strenge Schulform ab, wie Schiller. Formlosigkeit und Zügellosigkeit sind Bestandteil unseres Lebens und die Intrigen der Adeligen, wie in Kabale und Liebe, sehen heute anders aus.

    Für mich bleibt die zentrale Frage – auch für die Projekte: Ist Kunst eine privilegierte Tätigkeit für die Wenigen? Oder ist sie Bestandteil der Menschenwürde, die allen Zusteht? Genie bricht die Regeln und schafft sich selbst neu. Das ist harte Arbeit durch Gesetze und Regeln der Kunst. Dazu braucht es Mut und einen Impuls, den die Sturm und Dränger hatten: Auf offenen Meer segeln und sich nicht damit abfinden, was vorgegeben wird.

    Beáta Nagy

  3. „Befreit Euch von den Fesseln der Vernunft und der Konvention!“

    Das ist die Botschaft von Sturm und Drang. Die eigene Genialität entdecken!
    Das ist auch ein Impuls unserer Projekte: durch die Kunst die Persönlichkeit begeistern. Wie kann man aber das kämpferische, genialische Lebensgefühl der Dichter auf Menschen übertragen, die sich als Opfer ihrer Umstände erleben, die ständig fühlen, dass sie nicht mithalten können, dass sie vom Umkreis als unfähig eingestuft werden?

    Was können wir also tun, um gesichert und fruchtbar mit der Kunst zu arbeiten? Wir haben die Aufgabe, den Menschen nach zwei Seiten hin Mut zu machen: Die eigene Zukunft zu öffnen, sich mit Sturm und Drang aus alten Formen zu befreien und gleichzeitig eine Versöhnung einzuleiten mit den eigenen Schwächen, der eigenen Unfähigkeit und einer bedrückenden, beengenden Umwelt.

    Der Hype durch Schauspiel ist ja erst mal noch nicht die eigene Realität. Auch wenn vieles angeregt ist, neue Kräfte erlebt werden, besteht immer noch der Teil der Persönlichkeit, der unpünktlich ist, der wieder krank wird, den die Versagensangst zurückwirft. Bis die neue Bildung in der eigenen Wirklichkeit greift, können Jahre vergehen! Wie also den genialischen mit dem verunsicherten Menschen so verbinden, dass diese Spannung ausgehalten werden kann?

    Was bei Goethes Werther scheitert, der mit seinen Idealen an der profanen Wirklichkeit zerbricht, kann und muss uns gelingen: die Akzeptanz einer unvollkommenen, einengenden, sogar schädlichen Wirklichkeit, die ich in mir und um mich herum erlebe, und der man nicht entfliehen kann.

    Hans- Ulrich Ender

Einführung

Martin Kreidt

Um 1750 geborene Autoren prägen zwischen 1770 und 1780 den Sturm und Drang. Es ist das erste Mal, dass sich auf breiterer Fläche deutsche Literatur eigenständig behauptet; es ist eine erste Jugendbewegung; in ihr werden die Weichen für die deutsche Klassik gestellt, jenem Höhenflug, dem unsere Kultur das Prädikat „Dichter und Denker“ verdankt. Sturm und Drang veränderte den Blick auf Mensch und Welt. 10 Jahre am Vorabend der Moderne. In den letzten zwei Dekaden des 18. Jahrhunderts wird sich die Welt unaufhaltsam in Richtung Heute drehen. Zuerst 1789 die französische Revolution, ein Umsturz, der ein System wegfegt und es damit für immer in Frage stellt. Dann, mit Beginn des 18. Jahrhunderts die industrielle Revolution, die gesamte wirtschaftliche und soziale Tektonik verschiebend. Doch 1770 ist es in vielen Bereichen noch wie im Mittelalter. Die meisten Menschen sind Analphabeten und leben auf dem Lande. Es gibt Leibeigenschaft, bitterste Armut, Hungersnöte, Fürstenwillkür und unüberwindbare Standesschranken. Die später so wichtige Kulturmetropole Weimar hatte 1770 knapp 5000 Einwohner und eine einzige gepflasterte Straße. Der Rest war Matsch.

Unten: Armut, Unbildung, harte, körperliche Arbeit. In der Mitte Bürgertum: Gelegentlich Wohlstand, doch selbstauferlegte Bescheiden- und Beschränktheit, ein in Abgrenzung zum Adel gepflegter Tugendbegriff inklusive gegenseitiger Kontrolle – die Dramen erzählen davon. Schließlich oben, bei den Fürsten, ein absolut geprägtes Macht- und Hofzeremoniell. Gegen diese Hierarchie, gegen die Ungerechtigkeit, gegen die Enge schreiben die jungen Dichter an. Die Ignoranz des Adels ist ebenso Thema wie die Kleingeistigkeit der Bürger. Insbesondere die rigiden bürgerlichen Tugend- und Moralvorstellungen, die aus heutiger Sicht eher an Gottesstaaten als an Zivilisation erinnern, werden thematisiert und finden in der Kindsmörderin einen dramatischen Ausdruck. Vor allem provoziert die Dominanz des Französischen den dichtenden Widerstand. Bis weit ins Bürgertum hinein sind „Kultur“, „Zivilisation“ und „Frankreich“ Synonyme. Es geht nicht nur um die zur eigenen Hochsprache gemachte fremde Sprache. Es ist der Rationalismus französischer Prägung dessen formale Ordnungsmacht sich im höfischen Staat, seine Affektkontrolle in der domestizierten Natur des französischen Gartens ausdrückt. Die dem Sturm und Drang vorrausgehende Welt des Rokoko ist eine lichte Welt des Außen, der alles durchdringenden Form, der Chiffren und Verweise, der durch die Vernunft gezähmten und ästhetisierten Farben und Formen.

Dagegen stellen die Stürmenden und Drängenden das Einzige, was sie haben: sich selbst. Der Genie- Begriff meint Einzigartigkeit und begründet unser heutiges Verständnis von Individualität mit dem daraus folgenden Recht auf Entfaltung. Nach der Natur zu leben heißt, die Welt aus sich selber gestalten. Im Guten wie im Bösen. Zum Menschen gehört sein Potential – wie seine Abgründe. Die Figuren des Sturm und Drang sind randvoll mit Emotionen und Leidenschaften. Die Stücke erzählen davon, wie der innere Druck in Spannung zu Mitmensch und Umwelt gerät. Wie schwer es sein kann, in einer Welt zu leben, die so ganz anders ist als erhofft und erwünscht. Dieser Urkonflikt begleitet uns bis heute. Die Stürmer und Dränger schaffen sich Luft, indem sie darüber schreiben. Es ist kein Zufall, dass das bekannteste Buch der Zeit, Goethes Roman Werther, von einem jungen Mann handelt, dessen hochfliegendes Innenleben sich umdreht und ihn vernichtet.

Personen und Werke

Die Auswahl ist weder vollständig, noch hat sie den Anspruch wissenschaftlich korrekt zu sein. Die Texte sind vielschichtig genug für verschiedene Blickwinkel. Auch ihre Quantität würde diesen Rahmen sprengen. Jeder der hier aufgeführten Autoren hat mehr produziert. Neben Dramen zahlreiche Prosa- Texte und Lyrik. Mit allem kann auf der Bühne gearbeitet werden.

Johann Gottfried Herder
1744 – 1803

Pietistisch erzogen, wuchs Herder in bescheidenen Verhältnissen auf. Während seines Studiums der Chirurgie in Königsberg erkannte er bald, dass er für diesen Beruf ungeeignet sei. Er wechselte zur Theologie. An der Domschule in Riga angestellt, schrieb er Rezensionen und die preisgekrönte Schrift „Wie können die Wahrheiten der Philosophie zum Besten des Volkes allgemeiner und nützlicher werden“. Begriffe wie „Genie“ und „Zeitgeist“ tauchten in seinen Schriften auf. Doch Herder wollte weiter. Er machte sich auf seine Reise, die ihn durch ganz Mittel- und Westeuropa führte, wo er auf wichtigsten Autoren der Zeit traf. 1771 lernte er in Straßburg Goethe kennen, zeigte ihm Homer und Shakespeare. Die Poesie bewertete Herder umso höher, je näher sie der Natur stand – in scharfem Gegensatz zu der artifiziellen französischen Mode der Zeit. Die schönsten Werke seien von den „wilden Natursöhnen“ geschaffen worden, Kultur – im Sinne von Formung – der Poesie eher abträglich. Das von Sehnsucht getriebene Missverständnis, die großen Vorbilder Homer und Shakespeare zu „Natur pur“ zu verklären durchzieht den Sturm und Drang. Herders bahnbrechende Entdeckung des literarischen Wertes von Volksliedern, Märchen und Mythen inspirierte Goethe zu Götz und Faust. Schließlich wurde er als Generalsuperintendent nach Weimar berufen. Durch die umfangreichen kulturtheoretischen Schriften, besonders aber durch Neugier, waches Interesse und seine Freude am Diskurs wurde Herder zum Spiritus Rektor der Epoche.

Journal meiner Reise aus dem Jahre 1769
Man kann diesen Text als schriftliche Geburt des Sturm und Drang lesen. Der fünfundzwanzigjährige Herder geht auf ein Schiff, das in über die Ostsee in die Welt – zu sich selbst, seiner Rolle und Lebensaufgabe bringt. Er lässt die engen Verhältnisse seiner bisherigen Wirkungsstätte Riga hinter sich. Das klingt wie Karl Moor in den 12 Jahre später erscheinenden Räubern, der sich über die fleischlose Kleingeistigkeit der Verhältnisse wortreich beschwert. Doch wo dieser später mit brachialer Gewalt gegen die Welt anrennt, lässt Herder sie hinter sich, um Neues und sinnstiftendes für sich und sein Leben zu finden, um bereichert und erneuert zu ihr zurück zu kehren. An Deck stehend, den Blick auf das Meer, kommt Herder zu sich selbst. Bei sich entdeckt jenen Reichtum von Herz und Seele, der die zentrale Entdeckung der Zeit ist. Es sind die Träume der Jugend, die Sehnsüchte, die Fähigkeiten, das Leben- Wollen, das Wunder der eigenen Persönlichkeit, zu der auch Sorgen und Ängste gehören, die ihn tief die eigene Existenz empfinden lassen. Während damit die Figuren der Bühnenstücke in Konflikt mit ihrer ganz anders gearteten Umgebung geraten, hat Herder auf dem Meer genug Raum um sich, um seine Gedanken frei zu entwickeln. Sich der Symbolik seiner Situation bewusst, gewissermaßen als Hauptakteur im eigenen Film, löst er sich dabei nicht von der ihn umgebenden Realität. Er beobachtet die Seeleute, blickt auf den Horizont, horcht in sich hinein, denkt daran, wohin ihn die Reise im übertragenden Sinne führen wird. Herder möchte lehren. Eine Lehre, die mit dem menschlichen Leben selbst zu tun hat. So wie er es empfunden hat auf dem Schiff.

Johann Wolfgang von Goethe
1749 – 1832

Goethe = Zentrum der Bewegung, Meilenstein, Monolith, hell leuchtende Sonne, Jahrzent-, Jahrhundert-, Jahrtausendfigur. Wichtigster und populärster Autor des Sturm und Drang, Leuchtturm, der Klassik. Dass Generationen von Bildungsbürgern seinen Namen verklärend über eine wenig glänzende Realität legten, dass Legionen von Lehrern ihn ihren Schülern für immer verleideten, ändert nichts seiner Dimension. Welch’ eine Schaffensspanne! Welch’ eine Schaffensbreite!! Welch’ eine Schaffenstiefe!!! Goethe war aktiver Landespolitiker, Autor, Naturwissenschaftler und vieles mehr. Er schrieb Prosa, Lyrik und Dramen. Man sagt, neben seinem Bett lagen stets Papier und Stift. Wenn er nachts aufwachte, schrieb ein Gedicht nieder – direkt, es war fertig, er hatte es geträumt. Goethe hatte Zugang zu Schichten der Persönlichkeit, die uns Normalbürgern verschlossen sind. Sein Leben verlief in Stufen. Er entwickelte sich. Biographen sprechen von einer Zwiebel. Nach einer Schicht kam die nächste. Meistens verbunden mit einem Werk. Wenn die Zeitgenossen anklopften, war Goethe einen Schritt weiter. Doch war er bodenständig genug, zu wissen, dass man nicht von Versen allein lebt. Anders als viele seiner Mit- Dränger war er als Sohn eines reichen Frankfurter Patriziers von Anfang an privilegiert. Anders als andere Dichter, schon zu Lebzeiten ein Star. Er schlug eine Laufbahn als Hofbeamter, die ihn adelte, nicht aus. Als es ihm zu eng am Weimarer Hof wurde, ging er nach Italien. Die Natur sah er nicht nur als poetische Bühne, sondern er beobachtete und erforschte sie. Seine naturwissenschaftlichen Arbeiten waren ihm wichtiger als die poetischen. Er stellte Verbindungen her, Bezüge, setzte die Dinge in Zusammenhang. Vielleicht sind andere Autoren sprachschärfer, sozialkritischer, gewaltiger – Goethe schuf einen Kosmos, in den man eintauchen und umherschweben kann und immer wieder neue Landschaften entdeckt: kristallklar, tief, mehrdimensional – und immer mit Humor.

Werther
Ein Prosatext, ein gerne für die Bühne adaptierter Roman. Ein Muss. Es hilft nichts: WERTHER MUSS SEIN! Auch wenn er am Anfang mit seinem Überschwang auf die Nerven geht – es setzt der Zersetzungsprozesses einer Person ein, langsam, unaufhörlich, ein gnadenloser Sog. Man kann sich ihm nicht entziehen – bis zum finsteren Ende. Der Briefroman erlaubt Innensicht. Ein junger Mensch fliegt durchs Leben, voll Zuversicht, Lebensfreude und jener spätpubertären Allmacht, als gehöre ihm die ganze Welt, deren Bestimmung es offenbar ist, ihm eine herrliche Bühne zu sein. Höhepunkt des Jubilierens ist – natürlich – die Liebe, die hier Charlotte heißt. Doch genau dort dreht sich die Amplitude fein um: Charlotte ist versprochen. So einfach, so fatal. Was wie der Klassiker der Verlorenen Liebesmüh anmutet, steigert sich zur Obsession, führt langsam aber unaufhaltsam in den Abgrund der Selbstzerstörung. Die Unmöglichkeit entwickelt sich zu einer Manie, die ihn aushöhlt und frisst. In wunderbar klarer Sprache verdüstert sich die helle Welt, verliert ihren Lebensfunken, bis sie ihn ausknipst. Werther war ein unglaublicher Erfolg, der Goethe über Nacht in ganz Europa bekannt machte. Mit allen Begleiterscheinungen kann man Werther als ein allererstes popkulturelles Phänomen sehen.

Götz von Berlichingen
Wüstes S & D Erstlingswerk in Shakespeare- Manier, Schlachtenszenen, Verliese, Burghöfe, Zigeuner im Wald. Ein Thema wie im späten Western: die alte Zeit der archaischen und ehernen Gesetze ist vorbei, Zäune regieren das Land, im Fall von Götz gesellschaftlicher Aufruhr (Bauernkriege) und machtpolitisches Taktieren zwischen Kaufleuten, Städtern und Fürsten, die zu intriganten Machtpolitikern geworden sind. Doch während die Westernhelden einsame, aus der Zeit gefallene Reiter sind, lebt Götz auf seiner Burg mit seinen Leuten ein gesellschaftliches Gegenmodell. Ein ehrlicher und prinzipientreuer Patriarch, der selbst Hand an legt, dessen Wort gilt, für den ein Eid noch ein Eid ist. Kein Wunder, für ihn ist in dieser neuen Welt kein Platz mehr. Wie später auch beim Faust- Mythos greift Goethe tief in die – deutsche – Geschichts- und Mythenkiste. Götz, ein historischer Raubritter, wird zum Träger rückwärts gewandter Werte, die in der Integrität des Individuums liegen, in seinem Recht auf Entfaltung und – Freiheit! So wird der in seiner Zeit erzkonservative Götz energischer und schließlich tragischer Verfechter jugendrebellischer Sturm und Drang Ideale. Ein Paukenschlag, sowohl inhaltlich als auch formal. Man schließe die Augen, versetze sich in ein Rokoko- Schlösschen und lasse Götz mit seiner Horde durchgaloppieren. Die Riechfläschchen her!

Urfaust
Das Lebenswerk des Meisters noch einmal vor dem Hintergrund seiner Entstehung im Sturm & Drang! Sofort leuchtet der volkskulturelle Ursprung ein, Absage an den französischen Einfluss. Die damals allseits bekannte Sage des Teufelsbündners Faust wurde an dunklen Winterabenden erzählt und als Marionettenspiel auf Jahrmärkten gezeigt. Es fällt nicht schwer, im Faust der Studierstube den Stürmer und Dränger zu entdecken, der das tote Wissen verachtet und von unbändigem Lebenswillen zerfressen wird. Der die engen Grenzen seines gelehrten Kerkers in Form der Studierstube sprengen will – Freiheit! Doch ebenso wenig wie beim Götz hat Goethe ein Interesse an historischer Aufarbeitung. Er benutzt, formt um, füllt neu. Zum Faust Mythos montiert er, angeregt durch den zeitgenössischen Prozess einer Kindsmörderin, die Gretchen- Tragödie. Auch Gretchen befindet sich in einem Kerker – der tugendfanatischen Totalkontrolle einer bösen, kleinbürgerlichen Welt. Sie will wie Faust lebendig sein. Doch anders als er, der seinen Kerker nur mit Persönlichkeitsspaltung im Teufelspakt verlassen kann, treibt es sie mit einer Intensität hinaus, deren Fliegkraft alles um sie herum zerstört. Es geht um Entwicklung, ihre Gefahr, ihr Scheitern. Mit Gretchen hat Goethe eine oft als dummes Blondchen missverstandene Figur von einer Radikalität geschaffen, die sie zu den aufregendsten der deutschen Literatur gehört.

Jacob Michael Reinhold Lenz
1751 – 1792

Goethe und Lenz – zwei Wege mit weit entferntem Ausgangspunkt, die für einen Moment zusammen kamen, sich schließlich wieder weit trennten. Anders als der von Anfang an privilegierte Goethe wuchs Lenz als Pfarrerssohn in einer baltischen Kleinstadt auf. Dort herrschte in mehrfacher Hinsicht ein raues Klima: Leibeigenschaft, Aberglaube, Armut, unwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen der Landbevölkerung, öffentliche Züchtigungen der Unfreien nach dem sonntäglichen Kirchgang. Der erzkonservative Vater, der mit stundenlangen Predigten die Gemeinde in Angst und Schrecken versetzte, bis ihn später sein Eifer an die Spitze der livländischen Kirchenhierarchie brachte, hatte schweren Einfluss auf sein Leben. Lenz war zart, sensibel, intelligent. Sein Leben eine Flucht. In den Werken taucht der Erziehungsgedanke immer wieder auf. Er entkam der väterlichen Welt erst nach Königsberg, wo er des Vaters Wunsch gemäß Theologie studieren und Pfarrer werden sollte. Er hörte Kant, brach das Studium ab, reiste über Umwege nach Straßburg – eines der wichtigsten Epizentren des Sturm und Drang Anfang der 1770er Jahre. Herder war da, Goethe. Die zwei jungen Dichter erkannten etwas im anderen, verlebten eine intensive Zeit. Anonym veröffentliche Dramen von Lenz wurden, aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar, für die Werke des damals schon bekannten Goethe gehalten. Bis heute gibt es Gedichte, bei denen unklar ist, ob sie von Lenz oder Goethe stammen. Dann nahm Goethe die Stelle in Weimar an. Lenz folgte ihm, wie so viele andere, und machte sich, wie viele andere, Hoffnungen. Doch Goethe hatte sich weiter bewegt. Es kam zum Zerwürfnis, Lenz musste Weimar verlassen. Er irrte durch die Lande, war in der Schweiz. Schon früh zeigte Lenz Zerrissenheit. Nie erlangte er eine Position. Nie kam er an. Von der Familie abgelehnt als „Komödienschreiber“, in ständiger Existenznot, ohne Perspektive, zeigten sich Anzeichen einer Psychose. Freunde halfen, waren überfordert. Weggefährten – zu allererst Goethe – zogen sich zurück. Lenz kehrte zur Familie heim, die keinerlei Verständnis zeigte. Die letzten zehn Lebensjahre verbrachte Lenz in Moskau. Dort wurde er in Frühjahr 1792 tot auf einer Straße gefunden. Anders als der alles verbindende Goethe verstand Lenz den schöpferischen Prozess als unmittelbare Reaktion auf die Umgebung – ohne Distanz zu ihr. Seltsam detailliert, fast überscharf, wie ein Blick durch das Schlüsselloch der Zeit in die Wohnstuben von Soldaten und Kleinbürgern erscheinen seine Stücke. Wir sehen unfertige, hilflose, ganz und gar unpromethische Menschen in ihrer Beschränktheit gelegentlich grotesk überzeichnet. Wir werden Zeuge von armseligen und unwürdigenden Zuständen. Lenz ist der erste sozialkritische Autor, der Büchner (man lese seine wunderbare Novelle „Lenz“), Hauptmann, Brecht maßgeblich beeinflusste. Zu Lebzeiten hatte er davon nichts. Dazu schrieb Lenz an Herder: „Und mögen auch Jahrhunderte über meinen armen Schädel verachtungsvoll fortschreiten ...es ist wahr und wird wahr bleiben.“ Wie wahr.

Der Hofmeister – oder die Vorteile der Privaterziehung
Welch ein Unterschied zum Jugendfreund Goethe! Beim Lesen entsteht der Eindruck, einem Film in Buchstabenform zu folgen. So kleinteilig, so real, so undramatisch erscheint das Geschehen. Kein wüstes Historiendrama, sondern ein Zoom in die Zeit! Dort leben sie, die Menschen, bei deren Anblick niemand an den Doktor Faust oder Götz von Berlichingen denkt. Beschränkte, dumme, ängstliche und manchmal gute und oft gemeine Menschen. Menschen die selten das Richtige tun. Mehrere Handlungsstränge: ein verhöhnter Hofmeister, Privatlehrer für Adels- Sprösslinge, schwängert seine vollkommen unbedarfte Schülerin - und kastriert sich später in einer Dorfschule. Ein über sein Verhältnis lebender adliger Student, der für die Schulden eines Freundes ins Gefängnis geht. Der Vater der Entehrten, der sich auf einen Rachefeldzug begibt und dabei seine gefallene Tochter aus einem Teich rettet. Das Stück feiert keine Helden, sondern prangert Umstände an. Sein Reiz liegt in der scharfen, manchmal überscharfen bis ins Bizarre kippenden Genauigkeit. Es oszilliert zwischen Komödie und Tragödie – um dann doch als Komödie zu enden. Der „Hofmeister“ ist das erste deutsche Sozialdrama. Kein Zufall, dass Brecht großer Lenz- Freund war.

Die Soldaten
Marie: „Schwester, weißt du nicht, wie schreibt man Madam, Ma ma, t a m m tamm, me me.“
Was soll man von einem Stück halten, das so beginnt? Wir sehen einem jungen Mädchen zu, das so gerne das französisch schreiben möchte und dabei hilflos herum buchstabiert. Wenn dann adlige Offiziere gemeinsam einen sportlichen Wettkampf ausrufen, wie das arme Ding am raffiniertesten zu Fall bringen sei, kann weder der wohl meinende Vater noch der zutiefst gedemütigte Bräutigam etwas dagegen tun. Oder doch? Lenz nennt sein Stück eine Komödie. Es ist die Komödie des Lebens, die lustig sein könnte, wenn sie nicht so tragisch wäre. Aus Nichts, aus den Bedürfnissen der normalen, kleinen Menschen in ihren Umgebungen entsteht die Katastrophe: Ein wenig Mutwillen, ein wenig Eitelkeit, viel Unerfahrenheit und Ahnungslosigkeit werden schnell zum Ungeheuer. Es lohnt nicht, die Menschen anzuklagen. Sie sind bei Lenz alle gleich klein, liebenswert oder verächtlich. Es sind die Umstände einer Gesellschaft, die von ständischer Hierarchie, starrem geschlechtlichen Rollenverständnis und gnadenloser öffentlicher Moral bestimmt ist.

Friedrich Schiller
1759 – 1805

Neben Goethe der zweite Wolkenkratzer unserer literarischen Kulturgeschichte. 10 Jahre nach ihm als Sohn eines Wundarztes im württembergischen Marbach geboren. Mit 14 Jahren musste er auf die Militärakademie Karlsschule im Schloss Solitude bei Stuttgart. Eine finstere Zeit für den jungen Schiller. „Die Räuber“ sind dort entstanden. Schiller las seinen Mitschülern nachts im Wald vor der Schule Szenen daraus vor. Nach überstandener Akademiezeit studierte Schiller Medizin, arbeitete als Militärarzt. Vielleicht ist es die sehr konkrete Sicht auf den Menschen als ein Organismus, die ihn weniger allumfassend, dafür von isolierender Schärfe die Verläufe von Mensch, Gesellschaft und Geschichte als eine Abfolge von Ursache und Wirkung erleben und beschreiben lässt. Anders als Goethe sympathisierte Schiller mit der französischen Revolution. Er wurde später zum Ehrenbürger Frankreichs ernannt. Diese Haltung zwang ihn zur Flucht aus Armeedienst und Heimat. Über mehrere Stationen gelangte er schließlich nach Weimar. Aus anfänglicher Konkurrenz – Goethe hatte den großen Erfolg der Räuber, Fiesko und Kabale und Liebe argwöhnisch verfolgt – schlossen sie die weltberühmte Freundschaft und erklommen den Literaturolymp. Schiller, der heute an den Theatern am öftesten gespielte deutsche Autor, hat nicht nur die zum Standartalptraumrepetoire ganzer Schülergenerationen gehörenden Oden „Die Bürgschaft“ oder „Die Glocke“, sowie unsere Europahymne „An die Freude“ verfasst, sondern kulturgeschichtlich bedeutsam im Theater eine „moralische Anstalt“ gesehen, woraus wir heute unser „Recht auf Kultur“ und nicht zuletzt „Das Künstlerische als Bildungsprinzip“ ableiten. Seine Stücke sind Operationen an der offenen Seele der Zuschauer. Wir sollen weinen – und so lernen wir. Seine Figuren sind Funktionsträger in einer virtuosen Dramaturgie zum Wirkungsziel. Vergleichsweise (Goethe) eindimensional ergeben sie zusammen raffinierte Komposition. So wie es bei den Musikern hohe und tiefe Instrumente gibt, werden die Dramen Schillers geprägt von klar positionierten Antipoden. Unschuldig ist unschuldig. Böse ist böse. In dieser Spannung entfaltet sich die ganze Sprachgewalt Schillers. Er ist ein Bildhauer mit Worten und scheint darin keine Grenzen zu kennen. Zitat Karl Moor aus den Räubern: „Fremdes, nie umsegeltes Land! – Siehe, die Menschheit erschlappt unter diesem Bilde, die Spannkraft des Endlichen lässt nach, und die Phantasie, der mutwillige Affe der Sinne, gaukelt unserer Leichtgläubigkeit seltsame Schatten vor – Nein! nein! Ein Mann muss nicht straucheln – Sei, wie du willst, namenloses Jenseits – bleibt mir nur dieses mein Selbst getreu – Sei, wie du willst, wenn ich nur mich selbst mit hinübernehme – Außendinge sind nur der Anstrich des Manns – Ich bin mein Himmel und meine Hölle.“ Aah.

Die Räuber
Ein oft gespieltes Werk des Sturm und Drang. Obwohl erst 1781, also kurz nach dem Zeitfenster 1770 – 1780 geschrieben, zählen die Erstlingswerke Schillers zur Epoche. Mit Recht. Werden doch die Figuren der Räuber getrieben von Stürmen und Drang. Das Kain und Abel- Motiv der Handlung ist ein in der Zeit mehrfach benutztes Bild für die Ohnmacht der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit. Der Vater verteilt seine Liebe ungleich. Ein Sohn bekommt alles, der andere nichts. Konsequent in allen Bereichen. Ohne Aussicht auf Änderung. Das gebiert Ungeheuer, Gewalt, Zerstörung. Der Benachteiligte rächt sich durch eine finstere Intrige, das Sonnenkind wird zum Räuber in die Gesetzeslosigkeit getrieben, bekommt moralisch- tödliche Flecken. Das absolute Böse steht dem relativen Bösen gegenüber. Die Frage stellt sich, ob das Werk, wie auf vielen Bühnen zu sehen, im Kern rebellisch ist, oder die Ordnung sogar zementiert, indem es eine schwach- ungerechte anklagt und damit eine stark- gerechte fordert. Zu erleben ist der Sprachbildhauer Schiller in früher Hochform. Die Sprachkaskaden des geliebten Sohnes Karl, der zu Beginn als Profi- Stürmer und Dränger „wieder die „tintenklechsende“ Zeit wettert oder die ungeheuerlich nihilistischen Wortungetüme von Franz. In diesem Text steckt die Wucht der besonders unerträglichen Situation im damaligen Württemberg und speziell für den jungen Schiller.

Kabale und Liebe
End- und Abschlusspunkt des Sturm und Drang, Übergang zur Klassik. Eines der meist gespielten Stücke deutscher Literatur. Bürgerliches Trauerspiel von derart perfekter Dramaturgie und Spannungsführung, dass sich jeder Hollywood Drehbuchschreiber die Finger leckt. Die Schnitte zwischen den Handlungssträngen, der Rhythmus, der Aktaufbau, der Einsatz der Kontrapunkte – eine Bühnen- Symphonie höchster Emotion. Und wofür das Ganze? Der Stürmer und Dränger ist in den Adel aufgestiegen. Ferdinand, Sohn des Präsidenten, eines vollkommen Machtpolitikers schwärzester Couleur in einem durch und durch verkommenen System begehrt wie die 68er gegen das verachtete Eltern- System mit seinem Dreck am Stecken auf. Er gründet jedoch keine Terrorgruppe, sondern liebt Luise – eine Bürgerliche! Der Vater hat andere Pläne mit dem Sohn: bei Ferdinand soll die abgelegte Mätresse des Fürsten per Heirat entsorgt werden. Der nicht nur mit viel Sturm und Drang, sondern auch mit bürgerlichem Tugendbegriff ausgestattete und allerhöchst empörte Ferdinand widersetzt sich dem finsteren Vater, der seinem Ruf gerecht wird und eine perfide Intrige spinnt. Am Ende gibt es Limonade, die vergiftet ist, die Familie zerstört – aber auch der Bösewicht erledigt. Kein Historiendrama, keine Welt in den böhmischen Wäldern, Menschen der damaligen Jetztzeit, Zustände der Zeit. Einschließlich des Verkaufs von Landeskindern in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg – schließlich waren rauschende Hoffeste teuer. Kurz nach seiner Flucht aus Württemberg rechnet Schiller mit den dortigen Verhältnissen ab. Dem Landesvater werden über 200 leibliche Kinder mehr oder weniger freiwillig mit der weiblichen Landbevölkerung nachgesagt. Man ahnt, wie  Schiller, dem schon die wilde Ehe Goethes nicht gefiel, dazu stand.

Friedrich Maximilian Klinger
1752 – 1831

Wie Goethe in Frankfurt geboren, jedoch, anders als dieser, in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen. Mit acht Halbwaise, muss seine Mutter als Lohnwäscherin die Kinder durchbringen, bis sie wegen Gicht auch diese Einnahmequelle verliert. Durch Begabung, Förderung und Glück kann Klinger das Gymnasium besuchen und stößt als junger Mann zu dem Kreis um Goethe in eine Keimzelle des Sturm und Drang. Er folgt ihm, wie viele andere, nach Weimar in Hoffnung, eine genialische Literatenkommune am dortigen Hof zu gründen. Und wie bei all den anderen wird diese Hoffnung bitter enttäuscht. Goethe hat Ämter übernommen, muss sich um Wege- und Straßenbau des Fürstentums kümmern. Das passt nicht zu den hochfliegenden Plänen der Dichterfreunde. Angefeuert durch Klingers Geltungsbewusstsein kommt es zu Zerwürfnis. Klinger will Offizier werden, liebäugelt mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Doch anders als Lenz gelingt ihm auf diesem Weg der gesellschaftliche Aufstieg. Er geht in die Dienste des Zaren, heiratet eine russische Adlige, schafft es bis in den Generalsrang und zu beachtlichem Alter.

Sturm und Drang
Stück gibt Epochentitel.
Shakespeare sei Dank: Zwei verfeindete Familien und eine Liebe dazwischen. Der Ort: nicht Norditalien, sondern Nordamerika, wo sich die Versprengten, aus dem Leben Getragenen treffen, um in eine nicht näher beschriebene „Bataille“ zu ziehen. Mitten drin Klingers Romeo mit dem sprechenden Namen Wild und Julia, die Caroline heißt. Dazu die auf Vergeltung sinnenden Väter und ein noch vergeltungssüchtigerer Bruder. Aus der Schlacht kehren alle wieder. Doch ihre Fortsetzung auf persönlicher Ebene kann durch einen „Mohrenjungen“ mit reiner, kindlicher Liebe verhindert werden: Versöhnung am Ende – und ein Hochzeitspaar. Die Stärke des Werkes liegt weniger in einer augeklügelten Handlungsführung. Es ist die Landschaft der Figuren, alle mit sehr kräftigen Farben, großem Druck und viel Energie ausgestattet. Sie verkörpern Typen mit eigener Welt und Sprache: Schwermütig der Eine, Zerrissen der Andere, wüst Einer, ein grotesker Phantast der Andere, kokett Eine und empfindsam die Andere. Helmut Scheuer schreibt: „Alle Figuren sind in der beständigen Siedehitze innerer Zerrüttung.“ Im Niemandsland Amerika stößt man auf schöne Sätze wie: „Ich bin wieder so gar nichts“ in einem Stück, dass im Gewand der Tragödie daher kommt, aber anders als das englische Vorbild als Komödie und versöhnlich endet.

Die Zwillinge
Hier „rollen die Augen fürchterlich“, sind „die Blicke starrend und nagend“ und der „aufgeworfene Zug am Munde schwillt grimmig“. Mit anderen Worten: Wir sind nicht bei einem Yoga- Kurs. Der Druck ist riesig in diesem Kain und Abel- Drama. Anders jedoch als bei den Räubern ist es hier der Prachtkerl, eine Inkarnation des Stürmers und Drängers mit dem Beinamen „der Löwe“, dem man nichts gegeben und alles genommen hat. Da sitzt Guelfo nun, schüttet Wein in sich hinein und kocht vor Wut. Die Erstgeburt, Besitz – und vor allem die schöne Kamilla! Alles bekommt der zarte und geschickte Fernando. Morgen soll Hochzeit sein! Aber morgen wird keine Hochzeit sein. Die Figuren sind – anders als bei Schiller – ambivalent gezeichnet. Wir sehen das Ende der Geschichte einer ohnmächtig empfundenen Ungerechtigkeit, einer Geschichte, die nur Verlierer kennt. Mit kleinen Personal, auf engem Raum wirkt dieses höllische Kammerspiel wir die Verdichtung eines betrogenen Lebens, dass nur auslöschen kann und selber ausgelöscht wird.

Heinrich Leopold Wagner
1747 – 1779

Sohn eines einfachen Straßburger Kaufmanns aus ärmlichen Verhältnissen. Studiert wie Goethe Jura, geht als Hofmeister nach Saarbrücken, wo er, wahrscheinlich aufgrund despektierlicher Äußerungen gegenüber des Fürsten, des Ortes verwiesen wird. Nimmt in Frankfurt eine Stelle als Amtmann an und gehört eine Zeit lang zum Kreis um Goethe. Bekommt wie andere dessen Umorientierung an den Weimarer Hof und die damit verbundene Distanzierung Goethes von jugendrebellischen Farcen und Spottschriften nicht mit, verscherzt es sich mit diesem. Auch dürften gewisse Parallelen seines bekanntesten Werkes mit Goethes damals noch ungedrucktem Urfaust – der Kindesmord, eine Person namens Marthe in ähnlicher Funktion, nicht zur Begeisterung des damals schon mächtigen und einflussreichen Goethe beigetragen haben. Eine Frankfurter Frau Rath schreibt von ihm, er sehe so ausgezehrt aus, dass man nur Haut und Knochen sehe. Mit zweiunddreißig stirbt Wagner an der Schwindsucht.

Die Kindsmörderin
Alle beliebten Zutaten der Zeit sind enthalten. Tatort: Bürgerstube. Personen: der alte Polterer als Vater, ein zur Penetranz neigender Prinzipienreiter, Moral- und Tugendapostel. Die Mutter, die dem wortgewaltigen Schreckensregiment des Straßburger Metzger- Gemahls durch kleine Heimlichkeiten zu entkommen versucht, ist zwar einfältig aber keineswegs schlecht. Sie will den Verlockungen des Sündenpfuhls, der da Leben heißt, nicht nur ablehnend gegenüberstehen. Schließlich die Tochter Evchen, die am Rande eines Balles direkt im ersten Akt eine Begegnung mit einem adligen Offizier hat, die sie neun Monate später, im sechsten Akt, zu dem macht, was der Stücktitel verspricht. Dazwischen Hyperrealismus: die Verführung – fast – auf offener Bühne, der Kindermord mit der Nadel in die Schläfe vor geschocktem Publikum. Niederstes Volk tritt auf und spricht Mundart. Was gehen uns heute die, insbesondere für den weiblichen Teil der damaligen Welt, grässlichen Tugendvorstellungen an? Sie sind ein Bild für die tödliche Enge, die entsteht, wenn in Kategorien gelebt wird, die festsetzen, wie das Leben zu sein hat, was richtig und was als falsch anzusehen ist. Diese Regeln werden im Stück von niemandem in Frage gestellt. Und wer hat schon den Mut, sich gegen die Werte der Welt zu stellen? Am Ende ist Tod und Zerstörung - ein Bild für die Folgen einer unbarmherzigen Wertewelt.

Praxis

Text

Kein Stück ist so spielbar – weder für Profis, noch für Laien. Alles eine Frage der Fassung. Das Glück will es, dass die betreffenden Texte urheberrechtlich nicht geschützt sind. Es gibt sie kostenlos im Netz. Das spart nicht nur Anschaffungskosten, sondern macht sie leicht bearbeitbar. Wie man früher im Kunstunterricht aus alten Illustrierten sich die Bilder für Collagen geholt hat, so gehe man an die Texte ran. Sich einfach aus einer Szene die markanten Sätze holen und szenisch mit ihnen arbeiten. Ein Stück durchkämmen. Sortieren. Im ersten Durchgang alles raus, was nicht interessiert. Dann noch einmal und noch einmal bis das Konzentrat hochprozentig ist. Oder verändern, verdoppeln, umstellen – Text ist Material!

Chor

Chor ist Gruppe. Gruppe ist stark. Stark ist mehr. Chor ist möglich, auch wo er nicht draufsteht. Mit anderen Worten: Jeder Text lässt sich chorisch sprechen. Dazu – siehe oben – ist es leichter, Prosatext in Verse umzuwandeln, entweder nach Satzteilen und/oder nach dem eigenen Gestaltungswillen (auch hier mit Doppelungen und Wiederholungen arbeiten!). Verse sind leichter lernbar und geben der Gruppe den Rhythmus vor. Dabei den Chor nicht wie in der Kirche statisch, sondern als Bewegungskörper begreifen. Ein „gespielter“ Chor der über Gesten und Bewegung zusammenhält, funktioniert besser als ein Chor, der sich nur über Sprachrhythmus definiert. Wenn dann Witz und Ironie Einzug halten, kommt jeder Chor in Top- Form.

Körper

Was ist der Mensch auf der Bühne? Zunächst einmal Körper. Körper soll er sein. Körper muss er sein. Zumal – nicht nur beim Sturm und Drang, dort aber besonders – jedem Text ein physischer Zustand zugrunde liegt: Aufregung, Nervosität, Aggression, Liebe. Emotionen drücken sich auch im echten Leben selten rein sprachlich, sondern physisch aus. Da komischerweise insbesondere bei Laien oft das Missverständnis vorherrscht, Theaterspielen sei das Aufsagen von Text mit ein wenig Betonung, ist die Arbeit an körperlichem Spiels wichtig. Wie? Nicht durch Theorie, sondern spielen, wie es die Kinder tun. Naiv, unbefangen, einfach. Klischees, Nachahmung, Stehgreifspiel wie bei den entsprechenden Gesellschaftsspielen helfen, die Hemmungen zu überwinden und schnell den Spaß am – körperlichen – Spiel zu finden.

Und zu guter Letzt, das Wichtigste überhaupt:

Antrieb, Spiel und Humor

Hans- Ulrich Ender

Der Versuch, die sogenannten Schlüsselkompetenzen mit Zwang und Druck oder durch Apelle an die Vernunft „beizubringen“, scheitert daran, dass weder Zwang noch Vernunft zum eigenen Antrieb führen. Das einzige, das uns wirklich nachhaltig zur Veränderung bewegen kann, ist dieser eigene Antrieb! Es muss also ein Antrieb entwickelt werden, der den unvollkommenen Teil der Persönlichkeit ergreifen kann, ein Trieb, der diesen Zustand aushält und langsam verwandelt. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Schiller Briefe zur ästhetischen Erziehung). Hier entwickelt Schiller eine Ästhetik, die Grundlage für diesen Antrieb ist. Das Spiel, das Schiller hier meint, ist ein freies Gestalten ohne engeren Zweck im Sinne einer Nützlichkeit. Es entsteht unmittelbar aus der Liebe zum Handeln.  Also kann man im Alltäglichen zum Beispiel eine Ästhetik der Pünktlichkeit anlegen, eine sinnliche Freude an der Raumgestaltung. Die eigentliche Genialität bewahrheitet sich im Alltag, in dem Umgang mit den „kleinen“ Dingen. Das muss vom Lustprinzip begleitet werden, da gehört die Lust hin! Jeder, der das probiert, kann erleben, wie ein echter Lebenswert in ihm entsteht, der tragfähig wird, der den Frust überwinden kann. Das Leben sinnlich lustvoll und liebevoll zu erleben, liegt unserer Kultur fern! Deshalb brauchen wir als Pädagogen besonders eine Kraft, um den Menschen darein zu helfen: Humor! Der Humor ist der Begriff dafür, die Spannung zwischen Ideal und eigener Lebenswirklichkeit auszuhalten. Gelingt es einem, eine Atmosphäre des Humors in der Gruppe anzulegen, bildet man die Brücke in die Zukunft, können alle Methoden fruchtbar werden. Diese Atmosphäre trägt die Gruppe durch die nötigen Krisen und der Einzelne nimmt sie in sich auf, verinnerlicht sie, macht sie sich zu Eigen. Er lernt damit, in jedem Scheitern sich als Wert zu bewahren, und er begreift, dass Entwicklung immer unperfekt seien muss! Damit fängt er an, sein Leben selber zu gestalten.

Bei Fragen, für Austausch und weitere Informationen:

Beata Nagy, nagy@projektfabrik.org, 01520 9332838
Hans Ulrich Ender, ender@projektfabrik.org, 0177 2435121
Martin Kreidt, kreidt@projektfabrik.org, 01520 9332834